Kurzgeschichte – Kerrek

“Du hast einen Auftrag, Kerrek.” Der Schamane blickte Kerrek an, die Augen leicht zusammengekniffen.
Kerrek senkte den Kopf, er wollte Turak nicht noch weiter verärgern. Schlimm genug, dass einer der Neuen heute die Opferziege hatte entkommen lassen. Ein Missgeschick – aber es hatte dem Burschen das Leben gekostet.
“Bist du eingeschlafen?”, herrschte der Schamane Kerrek an.
“Nein, Erhabener”, beeilte sich Kerrek zu sagen, “ich bin schon auf dem Weg.” Lieber die ihm zugedachte Aufgabe erfüllen, weit weg von der schnarrenden Stimme Turaks, seinem bohrenden Blick und seinem Stock, der allzu oft und plötzlich auf unachtsame Arme und Beine niederfuhr.  Kerrek hatte einige Narben auf Rücken und Armen, um das zu beweisen. Und heute wollte er sich nicht noch mehr davon holen.
Mit einer Verbeugung entfernte er sich aus Turaks Reichweite und eilte den Weg zwischen den Hütten hinauf. Direkt hinter dem Dorf wand sich ein schmaler Pfad den Berghang hinauf bis zum Opferplatz. Kerrek hielt einen Moment inne, als er den Platz erreichte, und sah sich um. Ein steiniges Plateau mit ein paar wenigen Grasbüscheln, in der Mitte ein vom Zorn der Götter getroffener Baum, halb verkohlt, die andere Hälfte zumindest im Frühling Blätter tragend, davor ein Felsblock.

Heute war alles mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Und an der Seite, einige Schritte entfernt, lag der leblose Körper von Arak, den er den Raubtieren der Berge zum Fraß vorwerfen sollte, denn eine richtige Bestattung hatte Arak nicht verdient. Schließlich war es ein böses Omen, wenn das Opfertier entkommen konnte. Das hatte Kerrek von klein auf gelernt. Und böse Omen mussten abgewendet werden. Mit einer Strafe an dem Schuldigen – und vielleicht noch weiteren.
Kerrek näherte sich dem Opferstein vorsichtig. Ein bisschen Angst hatte er immer, dass der Zorn der Götter sich direkt hier noch einmal entladen würde. Aber er hatte sich zumindest die letzten Tage nichts zuschulden kommen lassen. Nichts von dem er wüsste, jedenfalls.
Er runzelte die Stirn. Wieso waren dort Spuren im Schnee? Fußabdrücke, die dicht am Opferstein entlang führten und dann den Geröllhang hinauf. Wer war so verrückt? Er folgte den Fußspuren mit dem Blick. Dort oben war nichts mehr außer Steinen. Und dem kleinen Unterschlupf, wenn man den Überhang eines Felsens denn so nennen wollte. Ob jemand anders seinen Platz entdeckt hatte?
Unschlüssig blickte Kerrek zu Araks Körper, dann wieder auf die Fußspuren. Er musste sowieso hinaufsteigen. Dann konnte er auch gleich nachsehen. Aber sicher nicht, während er den Toten hinter sich herzog. Mit einem Seufzer machte Kerrek sich auf den Weg, mit geübten Schritten den Geröllhang hinauf, immer wieder innehaltend und lauschend. Aber es war nichts zu hören oder zu sehen.
Oben, wo der Geröllhang in eine Steilwand überging, waren jedoch die Fußspuren wieder deutlicher zu erkennen. Sie führten an der Steilwand entlang, vorbei an ein paar großen Felsbrocken, in Richtung des Überhangs, an dem Kerrek sich gelegentlich ein paar Augenblicke der Ruhe erlaubte, außerhalb der Blicke des Dorfes und vor allem außerhalb der Reichweite Turaks.
Vorsichtig näherte Kerrek sich dem Überhang, die Deckung von ein paar groben Steinbrocken ausnutzend. Tatsächlich, dort war jemand. Zusammengekauert und Kerrek halb den Rücken zugewandt. Kerrek straffte sich und atmete tief ein bevor er aus seiner Deckung heraus trat und auf die Person zu ging.
Erschreckt fuhr die Gestalt herum und starrte Kerrek aus weit aufgerissenen Augen an. Blaue Augen, genau wie seine. Lange Haare von hellem Braun, die sich unter der grauen Decke hervorstahlen, die die Person um sich gewickelt hatte. Eine kurze Stirn, wie seine.
Kerrek blinzelte. Das war definitiv kein Ork, sondern … jemand wie er. “Was tust du hier?”, wisperte er. “Du solltest hier nicht sein.”
Die Frau schüttelte den Kopf. “Nur einen Moment. Ausruhen.”
Kerrek runzelte die Stirn. Ausruhen? Wovon? Niemand außer ihm sollte hier sein, erst recht keine Frau. Außer … “Du willst weg?” Es klang ungläubig. Eigentlich hatte er ‘fliehen’ sagen wollen, aber das Wort kam ihm nicht über die Lippen.
“Geht dich nichts an.” Die Frau schaute ihn finster an.
Kerrek wollte schon widersprechen, zögerte aber. Wollte er es wissen? Noch konnte er sagen, er hätte nichts gewusst. Ganz ohne zu lügen. Selbst Turak würde wissen, dass er nicht log. Vielleicht konnte er sie ja überreden zu bleiben? “Du bist verrückt. Es ist Winter. Und du bist alleine.”
Die Frau zuckte die Schultern. “Ist egal.”
Mit gerunzelter Stirn sah Kerrek die Frau genauer an, erkannte Kratzer und blaue Flecken an dem bisschen an Haut, was unter der Decke zu erkennen war. Und auch den trotzigen Funken in den Augen der Frau. Er warf einen Blick auf den schmalen Pfad zurück. “Warte hier. Ich hole… etwas. Vielleicht glauben sie dann dich hätten die Luchse erwischt.”

“Mach was du willst”, sagte die Frau schroff.
Kerrek drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Das Geröllfeld hinab und zu Araks Leiche. “Hast selbst jetzt noch eine Aufgabe, hm?” Ächzend hob er den schweren Halbork auf seine Schulter so gut es ging und begann wieder mit dem Aufstieg. Sich einredend, dass er jetzt ja nur seine Aufgabe erfüllte und Arak den Raubtieren hin warf, die in den Bergen lebten. Vielleicht war die Frau ja auch gar nicht mehr da, wenn er den Platz dort oben wieder erreichte.
Tatsächlich war der Platz unter dem Felsüberhang leer. Natürlich, wieso sollte sie auch warten, dass er Turak und den anderen Bescheid sagen würde, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Aber ihre Spuren waren gut zu erkennen. Wenn sie nicht zu weit vorangegangen war, dann… Kerreks Überlegungen wurden durch einen erschreckten Aufschrei unterbrochen. Er ließ Arak achtlos fallen und rannte los, in die Richtung, aus der er den Schrei gehört hatte. Recht nah.
Auf dem steinigen Pfad stand die Frau einem Luchs gegenüber, sie selbst nur mit einem Stein bewaffnet. Die Raubkatze geduckt, lauernd, zum Sprung angesetzt. Kerrek griff im Laufen nach einigen Steinen. Zu klein, um damit jemanden zu verletzen, aber hoffentlich ausreichend, um die Raubkatze abzulenken.
Er warf die Steine, nicht richtig gezielt, ein paar trafen die Frau am Rücken, einige erreichten die Raubkatze, die erschrocken zusammenzuckte. Kerrek machte sich groß und reckte drohend die Arme, was zusammen mit einem gezielten Steinwurf der Frau dafür sorgte, dass die Raubkatze es sich anders überlegte und davon rannte.
Die Frau drehte sich um, starrte Kerrek für einige Sekunden nur an. “Danke”, brachte sie schließlich hervor.
Kerrek grinste ein bisschen verlegen. “Lag nicht so falsch mit den Luchsen?”
“Sehr witzig.”
“Ich meine es ernst”, sagte Kerrek, “sie sind es gewöhnt, dass hier einfaches Futter zu finden ist. Ich sollte einen … einen von uns herbringen. Arak, er merkt nichts mehr. Turak sagte, ich soll ihn hierher bringen. Und … dann warst du da. Und ich dachte, wenn eh nur noch ein paar Knochenreste übrig sind, wer weiß schon ob es nur Arak war.”
Die Frau holte tief Luft. “Vielleicht hast du Recht. Die Idee klingt gut.”
Kerrek lächelte. Als er den Weg zurück blickte, sah er den Luchs witternd um die Ecke verschwinden. “Sieht so aus als hätte der Luchs ihn schon gefunden.”
“Und was ist mit dir?”, fragte die Frau unvermittelt.
“Mit mir? Was meinst du?” Verwirrt blickte Kerrek sie an.
“Willst du zurückgehen? Wer weiß schon, wie viele der Luchs gefressen hat.”
Erneut warf Kerrek einen Blick zurück.
Als die Frau ihren Weg in die Berge fortsetzte, folgte Kerrek ihr. Wer wusste schon genau wie hungrig so ein Luchs war.

1 Kommentar zu „Kurzgeschichte – Kerrek“

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